"Über KI gibt es viele Mythen und Missverständnisse"

Über die KI gibt es viele Mythen und Missveständnisse. Alexander Vocelka, internationaler Experte für KI und Senior Advisor bei think tank, spricht über Chancen und Möglichkeiten der KI.

KI ist zurzeit das Thema. Wie oft in solchen Fällen gibt es viele Mythen und Missverständnisse dazu. Könntest du in wenigen Sätzen erklären, was KI ist?

KI ist ein von Menschen geschaffenes, lernendes System. Das beginnt mit ganz einfachen Systemen, die Muster erkennen können, sogenannter Narrow AI, und geht bis zu Systemen, die ihre Umgebung und Abläufe darin erkennen und darauf zielgerichtet reagieren können.

 

Grundsätzlich sind KI-Systeme am besten als kybernetische Systeme zu verstehen. Sie verfügen über eine Sensorik, über die Informationen in sie fließt und einen Rechenkern, auf dessen Basis die Information

durch mathematische Modelle verarbeitet wird. Die Ergebnisse sind meist Suchergebnisse, Mustererkennung und Klassifizierung, Vorhersagen, Optimierungen, priorisierte Entscheidungen und inzwischen auch kreative Kompositionen von Bildern, Musik oder Texten in einem vorgegebenen Rahmen.

KI-Systeme verfügen über passive Ausgabesysteme wie Bildschirme oder Lautsprecher oder sogar aktive Motorik, die physikalische Infrastruktur, sogenannte OT (Operating Technology) bedienen kann oder einen eigenen Körper, wie bei Fabrikrobotern oder auch nur dem Mähbot für den Rasen. Die höchste Form von KI ist die sogenannte Generelle AI oder KI, in Anlehnung an unsere menschliche Intelligenz, die sehr viele sensorische und mehrere motorische Dimensionen beinhaltet.

Bei KI-Systemen ist die Information natürlich durchwegs digitaler Natur. Sie benötigen in der Regel große Datenmengen (Big Data), um meist in einem Batch Job trainiert zu werden. Dabei ist das „Dirty Secret“ der KI Industrie heute das Labeling. Eine große Anzahl von Menschen muss, insbesondere für Visuelle KI’s die Eingangsdaten, also die Bilder und Videos minutiös analysieren und kategorisieren, was Labeling genannt wird.

"Menschliche Fähigkeit, auf Basis von kleinen Datenmengen zu entscheiden, noch unerreicht."

Die menschliche Fähigkeit, auf Basis von sehr kleinen Datenmengen zu lernen und Schlussfolgerungen zu ziehen, sogenannte Delta-Learner, bleibt selbst den aktuellsten Systemen noch vorbehalten. Ein interessanter Entwicklungszweig ist in dem Umfeld Edge-Intelligence, die gerade in Verknüpfung mit dem IoT eine entscheidende Rolle spielen wird. Heftig diskutiert wird zurzeit, inwiefern KI Operating Technology wie etwa die Energieversorgung steuern soll.

Wichtig zu verstehen ist, was KI heute noch nicht kann: Sie kann nicht verstehen, und sie kann nicht fühlen. Verständnis ist die Grundlage für komplexe Handlungsstränge und verantwortliches Handeln. Gefühle sind die Quintessenz für Bewusstsein und Bewertung.

Verständnis ist der anstehende große Sprung in KI, der wirklich revolutionär sein wird. Gefühle sind ein „Hartes Problem“, wie die Wissenschaft sagt und eine Simulation insbesondere für Bewertung scheint mir möglich, reine Gefühle wie sie Tiere und wir Menschen hervorbringen wird mit siliziumbasierten Maschinen wohl nicht machbar sein.

KI bietet für Unternehmen viele Chancen? Wo siehst du die Haupteinsatzmöglichkeiten?

Die ehrliche Antwort wäre überall. Natürlich gibt es Prioritäten, die sich vor allem aus dem Geschäft des Unternehmens ableiten. Dabei klassifiziere ich grundsätzlich in zwei Typen von Geschäftsmodellen, die eine unterschiedliche KI-Relevanz haben. Zum einen Unternehmen, die ein physikalisches Produkt herstellen und diejenigen, die Services anbieten. Bei den Service-Unternehmen findet man die großen KI-Potenziale in der Portfolio-Optimierung und in der Customer Journey, hinzukommen die üblichen Effizienzgewinne im Operating Model. Bei den Herstellern von physikalischen Produkten liegen oft die größten KI-Potenziale im Produkt selber, so z.B. beim autonomen Fahrzeug, aber natürlich in jedem anderen Produkt. Ich kann mir kein Produkt und auch kein Infrastrukturteil vorstellen, das dumm bleiben wird.

Beim Business Case von KI-Lösungen sprechen wir sehr schnell von 100en bis 1000en % ROI pro Use Case. Keine andere IT-Investition kann annähernd einen so hohen ROI bieten!

Sehen wir uns die einzelnen Industrien an, dann liegt das größte Potenzial eindeutig im medizinischen Bereich. Der Mensch ist ein super-komplexes, physiologisches System und alle neuen Diagnostiken und Therapien werden massivsten KI-Einsatz benötigen. Werkzeuge wie CRISPR und Gen-Therapien hängen von KI ab. Eine gesunde Langlebigkeit der Menschen wird ohne KI nicht möglich sein.

 

Das ist der Grund warum KI als 4. Produktionsfaktor auch der mächtigste ist und die vierte industrielle Revolution in meinen Augen die KI Revolution ist.

Welche Einsatzbereiche siehst du konkret? Und welche Voraussetzungen muss ein Unternehmen beachten, um KI sinnvoll zu implementieren?

Abgesehen von den eben angeführten intelligenten Produkten, sehe ich in der Produktion und Qualitätsoptimierung ganz leicht zu hebende Produktivpotenziale. Es ist erstaunlich, dass hier noch über 90% des KI Potenzials gar nicht erfasst wurde.

Die Logistik generell ist ein einziges Potenzial. Verwunderlich ist, dass die Logistiker selber denken, es gäbe wenig Potenzial. Ich konnte selbst feststellen, dass hier die alten Simplex-Denkblockaden ein großes Problem sind. Jeder kann sich selber überlegen, ob der Service, den wir von Airlines, den Bahnen, den Schiffen und vor allem im Straßenverkehr kennen, schon optimiert ist, oder ob hier unglaublich viel Ineffizienz an der Tagesordnung ist.

Im Bereich Information Security kann man auf intelligente IKS- und Compliance-Systeme oder AI Cyber Defense setzen. Wenn man sich den Bereich Service ansieht, ist die Customer Service Optimisation dafür prädestiniert, KI einzusetzen. Darüber hinaus sollte KI natürlich in allen operativen Entscheidungsprozessen eingesetzt werden, um den ROI auch zu maximieren. Vorhersagen oder Mustererkennung ohne automatisierte Entscheidung und Aktion sind weniger als ein Zehntel der Miete von KI Projekten.

Um KI wirkungsvoll im Unternehmen einzusetzen, bedarf es einer KI Strategie und die selber ist am besten zu entwickeln, wenn man das Unternehmen als kybernetisches System versteht und beschreibt. Dann erkennt man nicht nur die KI-Potenziale, sondern versteht auch, wie sie zusammenhängen müssen.

Hat man die KI Strategie, kann man die einzelnen Initiativen und Projekte daraus ableiten, priorisieren und umsetzen. Alles hängt zusammen bei der KI.

Wo stehen deiner Meinung viele Unternehmen heute? Was sind die nächsten Entwicklungsstufen?

Nach fast 10 Jahren stehen viele Unternehmen noch bei der Entwicklung vieler einzelner, kleiner separater Use Cases. Es gibt inzwischen viele Data Lakes, aber die Ausbeute ist sehr gering, da es ein sehr heterogenes Verständnis und eine sehr unterschiedliche Akzeptanz von KI in den einzelnen Unternehmensbereichen gibt. Die einzelnen KI-Lösungen schwimmen losgelöst als Inseln voneinander im Data Lake. Das Inseldasein bei KI ist noch schlimmer als das Silodasein klassischer IT!

Nicht zuletzt fehlt es aber auch an der Akzeptanz der User im Unternehmen selber, mehr als beim Kunden oder Partnern, was wiederum an dem mangelnden oder sehr heterogenen KI-Verständnis liegt und diffusen Jobängsten, die wiederum von einem fehlenden Verständnis über KI auch in der Unternehmensleitung herrühren. Es gibt kaum jemanden, der schlüssige Antworten im Bereich KI geben und konsistent KI Strategien kommunizieren kann.  

Und da sind wir schon bei der fehlenden AI-Governance in den Unternehmen. Dieses Fehlen hemmt dann die Datengenerierung und -Integration. Wissen ist Macht und das Teilen von Daten wird oft als persönlicher Kontrollverlust der Manager empfunden.

Eine weitere Hürde ist eine Verständnislücke zwischen IT und Business oder auch Data Science. Zusätzlich ist die IT, die die Realisierung von KI übernimmt, heute in den Unternehmen auf operational Efficiency und nicht auf Innovation getrimmt. Diese Lücken zu überbrücken, ist eine wichtige Aufgabe von IT-Beratern.

Du hast vom Unternehmen als kybernetisches System gesprochen? Wo und wie haben Menschen noch Platz in dieser Welt?

Mittelfristig entsteht in meinen Augen eine sehr fruchtbare Kollaboration zwischen Menschen und KI-Systemen, in der die Menschen als Lehrer und die KIs als Lehrlinge ihre Rolle finden. Die Hauptaufgabe der Menschen wird mittelfristig die sein, KI stetig anzulernen, zu optimieren, zu überwachen und zu coachen. Die Entwicklung von High- zu Low- und No-Code zeigt uns diesen Weg.

Wir werden nicht mehr Programmierer benötigen, sondern einfach nur Experten, die die KIs natürlich führen und das über die natürliche menschliche Kommunikation.

Wir werden auch viele intelligente Systeme haben, die unterschiedlich stark sind. Auch die schwächeren werden in der Lage sein, von Menschen zu lernen. Das heißt, der Mensch und die Maschine werden engstens zusammenarbeiten. Die Maschine ersetzt den Menschen nicht, aber der Mensch wird seine Rolle ändern. Jeder Mensch ist von Natur aus Lehrer, Coach und Überwacher, denn der Mensch, wie die meisten Tiere auch, ist darauf programmiert, selber lernende natürliche Systeme zu entwickeln – seine Kinder. Es ist die Aufgabe der KI-Spezialisten, dies zu erkennen und die KI-Systeme in diese Richtung hin, eben als Delta-Learner, zu entwickeln.

Dabei wird auch sehr viel Energie darauf verwandt, die Systeme humanoid zu machen. Das steht dem menschlichen Empfinden aber entgegen. Wir fühlen uns wohler, wenn wir erkennen, mit wem wir es zu tun haben, als dass wir offensichtlich und sogar schlecht getäuscht werden.

Unsere Haustiere müssen nicht wie wir aussehen, damit wir sie akzeptieren und lieben. Wir sind fähig, Dinge zu personalisieren und zu lieben – daher der Begriff Autoliebhaber. Das menschliche Gehirn ist so leistungsfähig, dass es von selbst KI-Systeme personalisiert, ohne einen schlechten Homunkulus vorgeführt zu bekommen – das erscheint uns eher als creepy!

Zurück zum Thema AI Governance. Welche Aufgaben hat diese?

AI Governance hat die Aufgabe, die großen Potenziale von KI realisieren zu können und dabei negative Auswirkungen zumindest zu minimieren. Was oft falsch verstanden wird, ist, dass AI Governance eine Begrenzungsfunktion hat. Die AI Governance muss ein ausgewogenes Framework sein, das ermöglicht, das maximale Potenzial von KI nutzen zu können und negative Auswirkungen klein zu halten und zu mitigieren. Sie hat eine aufklärende Funktion bei allen Stakeholdern. Die AI Governance beschleunigt also die Entwicklung von KI im Unternehmen, da sie allen Beteiligten Sicherheit gibt. Gleichzeitig sollte sie Teil der Corporate Social Responsibility eines jeden Unternehmens und so Grundlage für einen verantwortungsvollen Umgang mit KI sein.

KI wird nicht weggehen und es wird auch keinen KI-Winter mehr geben. Anstatt das Thema im Nebulösen zu halten, sollte man es offen und realistisch beschreiben und die AI-Governance ebenso klar und offen halten. Dann werden Ängste zu Wissen und Verständnis und das wiederum zu Lösungen für die Zukunft.

KI ist der 4. und mächtigste Produktionsfaktor und wir stehen erst ganz am Anfang, überhaupt zu erkennen, welche Potenziale wir haben.

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